Die 76ers 2021: Kaffeesatzleserei und etwas Sportpsychologie

Rückblick: Am Ende der Regular-Season 2020/21 standen die Sixers auf dem ersten Platz im Osten. Anschließend konnten sie in Runde eins der Playoffs noch die Wizards in den Sommerurlaub schicken, ehe sie gegen starke Hawks mit einem angeschlagenen Joel Embiid sowie dem merkwürdig passiven Ben Simmons ausschieden. Was folgte, machte jeder Daily-Soap kernige Konkurrenz. So war der Sommer in Philadelphia geprägt vom Simmons-Drama. Ungeachtet dessen schritt die Planung für die neue Saison voran, bei der Daryl Morey abseits der Tradeversuche für Simmons Andre Drummond sowie Georges Niang in die Stadt der brüderlichen Liebe locken und Furkan Korkmaz sowie Danny Green halten konnte.

Heute: Nach der äußerst knappen wie bitteren Niederlage gegen die Celtics im TD-Garden vor zwei Tagen stehen die Sixers mit einer Bilanz von 11-11 auf dem 11. Platz. Auch wenn es der Tabellenplatz nicht verrät: Die Mannschaft ist gut, sie funktioniert. Und sie wird noch besser.

Warum? An dieser Stelle kommen wir zur gewagten, sportpsychologisch angehauchten Kaffeesatzleserei. Doch der Reihe nach. Wichtig ist eingangs zu erwähnen, dass Doc Rivers während der bisherigen 22 Spiele selten seine beste Mannschaft zur Verfügung stand. Laut Man Games Lost NBA fehlten dem Team verletzungsbedingt bisher die fünftmeisten Spiele (63). Bei genauerem Hinschauen zeigt sich, dass im Vergleich zu den anderen arg gebeutelten Teams mit Ausnahme der Bucks (Magic, Lakers, Clippers, Bucks) in Philly dabei u.a. absolute Leistungsträger in Embiid (9), Harris (8), Green (7) und Thybulle (7) fehlten. Hinzu kommt, dass sie nahezu gleichzeitig ausfielen, sodass die Sixers zeitweise mit kurzen Rotationen aufliefen. Dass der Franchise aus Pennsylvania dadurch die Meisten Siege entgingen, zeigt die Berechnung des Portals vom 30.11.2021:

Und dennoch schlug sich das Team respektabel, konnte sogar überraschende Siege gegen Atlanta, Portland oder Chicago (2x) verbuchen. Hierfür kann aus sportpsychologischer Sicht die Theorie vom Social Loafing als Fortführung des Ringelmann Effekts herangezogen werden – also die Tatsache, dass weniger Spieler mehr gefordert werden, mehr im Fokus stehen und deren Einzelleistung im Hinblick auf das gemeinsame Ziel offenkundiger ist. In einem größeren, weil kompletten Team kann es punktuell zu Motivationsverlust und dadurch Leistungsabfall einzelner kommen. Nun kann angemerkt werden, dass irgendjemand ja die Würfe nehmen muss. Richtig – nur getroffen werden müssen sie auch. Und da sind die Shooting-Splits bei drei Akteuren interessant, die üblicherweise von der Bank kommen.
Während der Zeit vieler Ausfälle sahen Niang, Korkmaz und Drummond mehr Minuten, bekamen mehr Abschlüsse und nutzten diese sogar effizienter – bei Niang (20-29 Minuten: 10.8 Punkte, 56.3 TS%; 30-39 Minuten: 15.2 Punkten, 59.3 TS%), Korkmaz (20-29 Minuten: 10.1 Punkte, 53.4 TS%; 30-39 Minuten: 16.7 Punkte, 59.1 TS%) und Drummond (20-29 Minuten: 3.7 Punkte, 38.4 TS%; 30-39 Minuten: 11.5 Punkte, 48.2 TS%) verbesserten sich neben der Punkteausbeute auch die TrueShooting-Werte bei gestiegener Spielzeit.

Ein weiterer Aspekt für das funktionierende Team ist die Tatsache, dass jeder im Sixers-Jersey seine Rolle kennt und diese annimmt. Prominentestes Beispiel ist wohl Andre Drummond, der vor noch nicht allzu langer Zeit einen Maximalvertrag von den Detroit Pistons erwartete (Detroit Free Press, 08.10.2019). In Philadelphia ordnet er sich erwartungsgemäß hinter Embiid ein und scheint diese Rolle zu leben – er gibt Gas und beschwert sich nicht. Auch Niang oder Korkmaz sowie Danny Green sind Akteure, die enorm wichtig sind.
Gerade letzterer erhält immer weniger Minuten und wird perspektivisch öfter von der Bank kommen. Und dennoch betont Doc Rivers immer wieder, wie wichtig der Veteran ist – vor allem defensiv: “His size, smarts, calm, and just the veteran leadership on the floor. Getting guys in their sets. He’s one of the guys, the key to defense is talking. We are not a loud team; I would say that. Joel’s actually very loud. So we don’t have his voice. Matisse is loud. If you had to rank our four best talkers on defense, three of them are out. That’s where even in the Atlanta series, I thought we missed his voice on the floor. That’s where you miss him.” (sixerswire, 19.11.2021)

Auch das ist ein wesentlicher Aspekt für das Funktionieren des Teams: Die Sixers haben in Embiid, Green, Harris und Niang absolute Führungsspieler und erfahrene Profis, die in herausfordernden Phasen junge oder zurückhaltende Spieler unterstützen. Aber auch die Jungprofis um Thybulle, Maxey, Milton, Korkmaz, Joe, Bassey oder Reed wirken sehr souverän und gefestigt. Hinzu kommt, dass Mannschaften in solchen Phasen generell enger zusammenrücken – dann, wenn der Druck von außen größer zu werden scheint. Das meint konkret Dinge, die von außen einwirken, wie beispielsweise Verletzungen, Quarantäne-Anordnungen oder auch die Unruhe rund um Ben Simmons sowie die Häme nach den letztjährigen Playoffs.  

Dass die Sixers ohne ihren Spielmacher, All-Star und All-Defender der letzten Jahre, zusätzlich aber mit dem Drama drum herum in die Saison gingen, nährte zaghaft das Underdog-Image. Spätestens aber mit den vielen Ausfällen wurden sie faktisch einer, ohne dass die Verantwortlichen dies unterstrichen hätten. In solchen Situationen entwickeln Mannschaften mitunter eine „jetzt erst recht Mentalität“, bei der selbstbewusste Profis oftmals motivierter spielen – und zurückhaltende Profis treten mit weniger Druck befreiter auf. 

An dieser Stelle muss Tyrese Maxey genannt werden. Der 1.88m kleine Guard verkörpert die bisherige Saison der Sixers, wie kaum ein anderer. Denn wie wahrscheinlich war es, dass er als Zweitjahresprofi in die Starting-Five rutscht und dort mit der Selbstverständlichkeit eines erfahrenen Profis agiert? Sein Auftreten nötigt definitiv Respekt ab. Der 21-Jährige spielte bisher die meisten Sixers-Minuten (35.5), ist drittbester Scorer (17,5), verteilt die meisten Assists (4.9) und verliert nur äußerst selten das Spielgerät. Dass er darüber hinaus sehr reif daherkommt, zeigt folgend Aussage: If I score 0 points and we win, I’m extremely happy.” Vor allem in Abwesenheit der etablierten Akteure ging er voran.

Abschließend ist festzuhalten: Die Philadelphia 76ers sind zwar nur auf Platz 11 im Osten. Allerdings haben die Zeit der vielen Ausfälle gut gemeistert und es geschafft, auch dann erfolgreichen Basketball zu spielen. Zudem stehen die Leistungsträger wieder zur Verfügung und werden allmählich besser in Form kommen. Und nicht zu vergessen: Ben Simmons wird das Team früher oder später verlassen. Jeder Spieler, der für ihn kommt, wird produktiver sein als Australier, der bisher noch kein Spiel für die Franchise absolvierte.

Bleibt an dieser Stelle die persönliche Hoffnung, dass Morey eher passende als renommierte Spieler akquiriert. Spieler, die menschlich passen und sich spielerisch gut integrieren lassen. Mehr muss nicht. Denn eines haben die 22 Spiele bisher und trotz allem gezeigt: Die Sixers leben!

 marcel

Fakten: Die 76ers 2021-22 auf basketball-reference.com

 

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