Ben Simmons im Juni 2021: "Definitely, I think, mental"



Die Philadelphia 76ers haben erneut enttäuscht. Nach einer erfolgreichen Regular-Season ging das Team von Doc Rivers als Tabellenführer der Eastern-Conference in die Postseason. Somit galten die Sixers als Favorit in den Serien gegen Washington und schließlich Atlanta. Das frühe Aus passt dabei zur wilden Postseason 2021. So schieden die Vorjahresfinalisten bereits in Runde eins aus. Zudem fehlten nie zuvor so viele Allstars verletzungsbedingt. Und erstmals seit 1994 kamen die beiden topplatzierten Teams nicht über die zweite Runde hinaus.

Nun beginnt in der Stadt der brüderlichen Liebe die Aufbereitung. Viele Fans und Experten haben dabei einen Verantwortlichen für das Ausscheiden ausgemacht: Benjamin David Simmons.
Der Australier spielte tatsächlich eine schlechte Serie gegen
und das darf nicht außer Acht gelassen werden sehr gute Atlanta Hawks und trug durch seine Passivität unter dem gegnerischen Korb maßgeblich zum Ausscheiden bei. Bleibt nur die Frage: Warum agierte er derart zurückhaltend? Was war anders als in der Regular Season, in der er oftmals aggressiv zum Korb zog?

Vermutlich existieren zahlreiche basketballspezifische Erklärungen für seine Auftritte: Fragen bzgl. seines Skill-Sets, der Line-Ups, der Match-Ups und natürlich seiner Einstellung. Ich stürze mich auf letzteres. Denn das ist m. E. etwas, das viel zu oft ausgeblendet wird. Dagegen werden erstgenannte Aspekte regelmäßig in den Blick genommen – analysiert, seziert und versachlicht. Dabei scheinen die Analysten und Kritiker manchmal zu vergessen, dass es um Menschen geht. Und die sind nicht immer in der Lage, zu funktionieren. Das kann jedem mal so gehen. Nur steht nicht jeder derart im Rampenlicht wie eben Ben Simmons. Nicht jeder bekommt in diesem Jahr $31.590.000,00 ausgezahlt. Und nicht jeder steht in einem entscheidenden Spiel 7 der NBA-Playoffs als Starter auf dem Feld. Und auch nicht jeder wird seit Jahren für sein fehlendes Scoring kritisiert und gleichzeitig als zweitbester Spieler eines Contenders wahrgenommen. Einige Gründe mehr, die bremsen und zur Last fallen können.

Dass Ben Simmons nicht das auf’s Parkett bekommen hat, was viele von ihm erwartet haben, ist bekannt. Dass er einfachste Dinge vermissen ließ, ist umso eklatanter. Ihn zum Sündenbock zu machen und aus der Stadt jagen zu wollen, halte ich jedoch für falsch. Denn offenbar hat es seine Gründe, dass er nicht funktionierte, wie erhofft. Und dabei meine ich nicht basketballspezifische. Auf die Frage eines Journalisten nach der Ursache für seine schlechte Freiwurfquote antwortete der 24-Jährige: "Definitely, I think, mental" (B/R: "Ben Simmons Says Playoff FT Issues are 'Definitely, I Think Mental' After Game 5 Loss"). Diese Antwort sollte stutzig machen. Ein bekannt selbstbewusster NBA-Profi und dreimaliger Allstar gesteht sich in aller Öffentlichkeit derartige Probleme ein – in einer Liga, die keine Schwächen duldet (B/R: "I Feel Like I'm the Best Defender in the NBA"). Nicht tagesaktuell.
Respekt für angreifbare Offenheit erhalten die Spieler meist erst im Nachgang. Ob damals Dennis Rodman, der seine Auszeiten brauchte oder heute Kevin Love bzw. DeMar DeRozan, die von Ängsten und Depression berichteten (SZ: "Kopfprobleme in der Muskelliga"). Auch Allen Iverson trug eine enorme Last, konnte diese offenbar aber schultern (ESPN: "The little-known story behind Allen Iverson's 'practice' rant").
Anders und ganz aktuell Paul George, der von Ängsten und depressiven Schüben während den Bubble-Playoffs 2020 berichtete – einen Shooting-Slump inklusive. Die Kritik George gegenüber war enorm, seine 34.6% aus dem Feld und nur 27% von Downtown für viele ein Beleg dafür, dass er dem Druck bzw. der Verantwortung nicht gewachsen sei (ESPN: "LA Clippers' Paul George says 'big difference' in his mental health now vs. in bubble"). Und heute, eine Postseason später? Da trug er seine Kawhi-losen Clippers in die Conference-Finals.

Nun sahen wir Ben Simmons gegen die Hawks. Und wir sahen, wie er gegen sie nur 33.3% von der Freiwurflinie traf. Zum Vergleich: In der Regular Season versenkte er 61.3%. Und das hat m. E. wenig mit Basketball selbst, nichts mit seinem Skill-Set oder seiner kaputten Wurfmechanik zu tun. Zumal es in den Spielzeiten zuvor anders aussah und er grundsätzlich stabil auf Simmons-Niveau traf.
Seine Passivität in den diesjährigen Playoffs liegt in der Unsicherheit an der Linie begründet. Wo die herkommt, bleibt offen. Aber aus Angst, an die Linie zu müssen, schien er gar einfachste Layups oder Dunks zu meiden – generell suchte er so selten wie nie zuvor den Abschluss. Dabei ist der Linkshänder (?) in der Lage, zu punkten. 




Fans und Kritiker sehen in ihm einmal mehr den weichen, unfähigen Playmaker, der sich nicht entwickelt und sofort getradet werden sollte (mehr dazu: "Der Spalter aus Melbourne"). Der zudem arrogant, unbeteiligt und unmotiviert daher kommt. Schutzmechanismus? Vielleicht.

Dass Simmons viele andere Qualitäten hat, wird bei aller Kritik oft vergessen. Wie zum Beispiel im entscheidenden Spiel als primärer Defender Trae Young bei einer miserablen Quote (5-23) zu halten oder 13 Assists zu verteilen. Dinge, die dem Selbstverständnis von Simmons eher entsprechen. Denn als Scorer sah er sich nie. Den wollen aber die Fans und Experten sehen.
Dass Doc Rivers seine Fähigkeiten zu schätzen weiß, ist bekannt. Dass er weiterhin an Simmons glaubt, zudem ein interessantes Signal. Ziel sei es nun, ihn zu einem besseren Freiwurfschützen zu machen und generell an seinem Wurf zu arbeiten (ESPN: "Philadelphia 76ers have plan to address Ben Simmons' shooting woes, Doc Rivers says"). Dafür verzichtet der Australier laut Brian Windhorst auf das Olympische Turnier in Tokyo. Das lässt zumindest keine Fragen bzgl. seiner Einstellung offen. Wenngleich er jeden Sommer an seinem Spiel zu arbeiten schien, ohne dass eine Entwicklung erkennbar war. 

Warum Simmons nun während der 2021 Playoffs nicht in der Lage war, seine (für ihn) gute Freiwurfquote aus den Vormonaten abzurufen, bleibt weiterhin ein Rätsel. Dass damit die fehlende Aggressivität beim Zug zum Korb einhergeht, liegt wohl auf der Hand. Bleibt die Frage: Reicht den Sixers ein Ben Simmons, der elitär verteidigt, den Ball verteilt, eingeschränkt punkten kann und bestenfalls ca. 60% seiner Freiwürfe trifft – also: geben sie ihm noch einen Sommer? Oder kommen Doc Rivers sowie Daryl Morey zu dem Schluss, dass ein Trade sinnvoller ist?

Egal, wo Ben Simmons in der kommenden Saison spielt: Mich würde es nicht wundern, wenn er dann rückblickend von enormen Druck, von Ängsten und ggf. tiefergehenden, psychischen Belastungen berichtet – und ihm für diese Offenheit Respekt entgegenschlägt.  

Ich persönlich hoffe, dass die Sixers ihm noch einen Sommer geben und ggf. seine Rolle überdenken. Denn m. E. muss Ben Simmons nicht der zweitbeste Spieler eines Contenders sein. Er sollte der sein, der er mit seinem seltenen Skill-Set sein kann und es ist die Aufgabe des Trainers, ihn entsprechend einzusetzen. Was in der Regular Season ja bereits gelang. Dennoch braucht er mehr Sicherheit von der Linie, idealerweise aus dem Feld. Doch dafür braucht er Vertrauen und Geduld. Doch das ist in diesem Business eine Ausnahme.

 marcel

Titelfoto: © Rob Nash auf pinterest.de 

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